Was ist Demokratie by Paul Nolte

Was ist Demokratie by Paul Nolte

Author:Paul Nolte [Nolte, Paul]
Language: deu
Format: epub
ISBN: 9783406630293
Publisher: C.H.Beck
Published: 0101-01-01T00:00:00+00:00


9 Nach 1945: auch eine Krisengeschichte

Man kann sich die Geschichte der Demokratie überhaupt als die Geschichte einer «Krise» vorstellen. Gerade in der deutschen Geschichte gab es allenfalls kurze Phasen, in denen das Gefühl einer überzeitlichen Stabilität, eines «Angekommen-Seins» in einer demokratischen Normalität vorherrschte. Für die «alte» Bundesrepublik waren das am ehesten die 1980er Jahre, als man sich an die Teilung gewöhnt hatte, das autoritäre und Nazi-Erbe in der politischen Kultur definitiv abgearbeitet und die inneren Konflikte und Anfechtungen der späten 60er und der 70er Jahren ausgestanden waren. Aber dann riefen Menschen jenseits der Mauer «Wir sind das Volk!», die Mauer fiel, und die Geschichte ging weiter. Nur für einen kurzen Moment schien das wiedervereinigte Deutschland «angekommen» – in dem Ziel einer nationalstaatlichen Demokratie, stabil und lebhaft zugleich. Doch schon bald brachen neue Konflikte auf, als Folge einer unvollendeten Einheit ebenso wie als neue Fragen an die innere Lebensfähigkeit der Demokratie und das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in sie. In anderen Ländern bestimmen Zacken und Umbrüche das Bild von der eigenen Demokratiegeschichte zwar deutlich weniger: die politische Kultur Großbritanniens blickt meist auf einen sanften, glatt asphaltierten Anstieg zurück; in den USA wird öffentlich sogar häufig das Bild der weiten Ebene kultiviert, zeitlos und stabil, in der die Gegenwart fast so wie 1776 ist. Aber in Wirklichkeit sind Krisen, Erschütterungen, Rückschläge auch dort nicht ausgeblieben und reichen bis in die Gegenwart weiter.

Dennoch kommt der «Großen Krise» des frühen 20. Jahrhunderts eine besondere, eine historisch singuläre Bedeutung zu. Keine Krise der Demokratie vorher oder nachher war tiefer, weitgreifender oder folgenreicher. Das wird erst dann besonders deutlich, wenn man auf die Zeit zwischen Jahrhundertwende und frühen 1940er Jahren aus der Perspektive einer Demokratiegeschichte blickt, wie Historiker das seit einiger Zeit verstärkt tun, statt von dem Aufstieg der Gegenkräfte der liberalen Demokratie in dieser Zeit, dem Kommunismus und Faschismus, auszugehen. Denn es ging um mehr als um eine äußere Gefährdung «der» Demokratie, die oft als totalitäre Herausforderung der Zwischenkriegszeit beschrieben worden ist. Am Anfang stand vielmehr eine innere Verunsicherung darüber, was Demokratie in veränderter Zeit heißen könnte; die Frage, ob sie nur eine Übergangserscheinung sei oder etwas Dauerhaftes, und ob sie in der technischen, ökonomischen und sozialen Konstellation des neuen Jahrhunderts zu Ende gehe – oder ihre Zukunft erst recht noch vor sich habe. Die Ursprünge dieser inneren Sinnkrise der Demokratie reichen vor die ideologische Formierung des leninistischen Kommunismus wie des Faschismus und Nationalsozialismus zurück, erst recht vor deren Etablierung als politische Regimes.

Diese Krise traf nicht nur deshalb so schwer, weil vielen Zeitgenossen der Übergang in die technisierte und organisierte Massengesellschaft so schwer fiel – in jene Ordnung, die Historiker jetzt oft «Klassische Moderne» oder «Hochmoderne» nennen. Sie traf die moderne Demokratie zugleich in einer Phase, in der sie nicht mehr bloß oppositionelle Bewegung war, als Regierungsform und institutionelle Praxis aber, jedenfalls in weiten Teilen Europas, noch nicht lange und sicher genug etabliert. Schon im 19. Jahrhundert hatte es Phasen gegeben, in denen demokratischer Optimismus in Ernüchterung umschlug, oder in denen die alten Gegenkräfte, in Europa die spätabsolutistische Monarchie und der Adel, wieder obenauf waren.



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